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Wüsten, Dünen und Kurven

Marokko ist ein unterschätztes Reiseziel: Grandiose Landschaften, Straßen von perfekt bis zu losem Untergrund, kulturelle Highlights und eine enorme Gastfreundschaft zeichnen das Land aus.

Eine vierspurige Straße in Marrakesch in der Innenstadt, der Verkehr ist dicht, es gibt kaum Lücken. Und wenn es welche geben sollte, werden sie sofort von Mopeds und Rollern gefüllt. Wie überquert man so eine Straße als Fußgänger? Ein alter Mann, der schlecht zu Fuß ist, macht es uns vor: Einfach losgehen. Sein Motto lautet augenscheinlich: Die sehen mich ja. In Deutschland ein suizidales Vorhaben, das laut quietschende Bremsen, Gehupe und Beschimpfungen auslöst. In Marrakesch funktioniert das ohne großes Getöse. Die Autos halten wirklich und lassen ihn rüber. Will ich das ausprobieren? Nö, lass uns mal zur Ampel gehen. Soweit bin ich noch nicht am zweiten Tag in Marokko.

Für einen Mitteleuropäer wirkt der Verkehr zunächst chaotisch. Links rum um den Kreisverkehr, weil rechts ein Auto wartet - wo ist das Problem? Gegen die Einbahnstraße? Kann man zumindest mit dem Moped doch machen.  Jemand muss ein Zeichen gegeben haben, denn alle Roller und Mopeds drehen mitten in der Einbahnstraße und fahren zurück. Ah, die Polizei kontrolliert hinter dem Tor. Und sobald der Streifenwagen weg ist, dreht der Strom der Zweiräder wieder in die "falsche" Richtung.

Meine erste Lektion in marokkanischem Verkehr: Dieses "Die sehen mich doch", gibt es in unendlichen Varianten. Beim Überholen: Die sehen doch, dass ich es eilig habe. Der hoch beladene Lastwagen mit Stroh: Die sehen doch, dass ich mehr Platz brauche. Die Frau mit dem Esel, der mit Schilf beladen ist: Die sehen mich doch. Wo es in Deutschland um Orrrrdnung! und RECHT haben geht, folgt der Verkehr in Marokko anderen Prinzipien: Es schauen wirklich alle. Und nehmen die "Fehler" der anderen recht gelassen hin. 

Wie wird das auf dem Motorrad sein? Wir fahren zusammen mit Reindert, unserem Guide, zu Assis. Er vermietet zusammen mit seiner Frau Motorräder. BMW und KTM hat er stehen, die er in einer eigenen Werkstatt nach jeder Tour zerlegt, reinigt und pflegt. Der nächste Händler? Weit weg. Die nächste Fachwerkstatt? Assis lacht. "Die Leute von BMW rufen mich an, wenn sie was wissen wollen." Klar, Mietmotorräder bekommen schneller viele Kilometer auf die Uhr als private Maschinen. Und sie sind in Marokko härteren Belastungen ausgesetzt als in Mitteleuropa. Sonneneinstrahlung lässt Scheiben und Scheinwerfer milchig werden, ein kleiner Sandsturm poliert den Lack und der nicht immer vorhandene Straßenbelag setzt Reifen, Radlagern und Federung zu. Die Bikes werden gefordert. 

Ich habe eine KTM 890 Adventure R bekommen, Birgit hat eine kleine BMW 310 GS gewählt. Die kleine Blauweiße wurde uns vorher von Reindert, unserem Guide, wärmstens ans Herz gelegt. "Mehr brauchst Du hier nicht", hat er gesagt. Ich war etwas skeptisch. Wir sind eine kleine Gruppe mit neun Motorrädern, Birgit und ich fahren ganz hinten. Eine ungewohnte Position für mich, wo ich es doch gewöhnt bin, selbst auch hin und wieder als Guide vorne zu fahren. Außerdem bin ich nicht vorbereitet: Ich habe keine Ahnung, welche Route Reindert geplant hat, ich fahre einfach hinterher. Dazu muss ich aber ziemlich am Quirl drehen. Stadtverkehr in Marrakesch, Ampeln und bloß nicht abreißen lassen!

Die Stadt verschwindet im Rückspiegel, Reindert biegt vorne auf eine Nebenstraße ab. Es bleibt mehr Zeit zum Schauen. Leider zieht der Himmel zur Mittagspause zu, es fängt sogar an zu regnen - damit hatte ich nicht gerechnet. Aber der leichte Schauer dauert nicht lang, am Nachmittag erreichen wir unsere Kasbah bei Demnate, ein traditionelles marokkanisches Gebäude mit schönen, großen Zimmern. Unser Gastgeber, ein junger Marokkaner, spricht perfekt Deutsch. Er hat lange als Reiseleiter gearbeitet, bevor er sich mit dieser Kasbah selbständig gemacht hat. Wir werden mit dem traditionellen Pfefferminztee mit sehr viel Zucker drin begrüßt, den wir auf der Terrasse zu uns nehmen. Kein Bier zum Ankommen, sondern Pfefferminztee - das wird unser Ritual für die kommenden Tage.

Kleiner Wandertag: In Imi Nifri besuchen wir eine Schlucht, die eine natürliche Brücke bildet. Eine ziemliche Kletterei, aber interessant. Einige Kilometer weiter der erste Tankstopp und die erste blöde Überraschung: Der Hinterreifen an einer BMW 750 GS ist platt. Ein krummer Nagel ist der Übeltäter. Was folgt, ist eine beeindruckende Einlage von Assis, der die Tour in einem Pickup begleitet. Er transportiert unser Gepäck, hat eine Ersatzmaschine auf der Ladefläche und natürlich Werkzeug dabei. Das Rad auf dem Hauptständer ausbauen, den Reifen mit Hilfe des Seitenständers von der Felge lösen, mit dem Montiereisen abziehen, einen neuen Schlauch in den Reifen ziehen, per Kompressor am Auto aufpumpen, Rad wieder einbauen - 25 Minuten später ist die BMW wieder fahrfähig. Von dem Moment an hat der zurückhaltende Assis den vollen Respekt der gesamten Gruppe. 

Wir überqueren den Hohen Atlas auf einer Nebenstrecke. Verfahren können wir uns auf den nächsten 50 Kilometern nicht, also dürfen alle im eigenen Tempo fahren und Fotostopps nach Belieben einlegen. Die Passage beginnt mit Asphalt und geht weiter mit schlechtem Asphalt. Dann sind nur noch einzelne Asphaltflecken zu sehen, bis die Straße über viele Kilometer auf rotem, losem Untergrund verläuft. Nicht richtig Schotter, auch kein Sand, halt eine Naturstraße. Vielleicht sollte sie mal asphaltiert werden und die Vorarbeiten wurden gemacht, aber inzwischen hat sie so ihre Schlaglöcher. Es dauert nicht lange, und die gesamte Gruppe fährt im Stehen. Ich bin zu faul, um im Stehen zu fahren und lass das Fahrwerk den Job machen. Aber nachdem mir die KTM mit einem ordentlichen Schlag ins Kreuz gesprungen ist, habe ich es auch kapiert.

Schneebedeckte Gipfel in der Ferne, davor Felsen, Steine, Sand, Schotter in allen Farbtönen zwischen Ocker und Rot, die die Farbpalette zu bieten hat. Der Himmel ist auf eine mir unbekannte Art dunstig, als seien Sandpartikel in der Luft. Doch immer, wenn die Sonne durchkommt, erstrahlt die Landschaft in ihren Rot-Tönen. Was für ein Panorama! In dieser kargen Landschaft fällt jede Oase sofort ins Auge: Grüne Palmen, kleine Felder und Schilf am Ufer. Dort, wo Wasser ist, haben sich die Menschen niedergelassen. In den Dörfern herrscht geschäftiges Treiben. Wenn sich die Motorräder den Orten nähern, strömen die Kinder an die Straßen und winken. Manche Jungs wollen abgeklatscht werden und laufen neben den Motorrädern her. Reindert hatte uns eingeschärft, dass wir uns nicht darauf einlassen sollen, weil es zu Unfällen führen kann. Mich beschäftigt der Gedanke lange: Warum winken sie uns so begeistert zu? Was sehen diese fröhlichen Kinder in uns? Und wie wird ihre Zukunft aussehen? 

Reindert biegt ab. An den Häusern links der Straße nimmt die Zahl der Teppiche zu, die zum Verkauf angeboten werden. Das ist ein klares Indiz, dass wir uns einer Touristenattraktion nähern. Die Faustformel lautet: Je mehr Teppiche, umso bedeutender die Attraktion, weil mehr Besucher kommen. Die Straße steigt aus dem Tal an, bis sie in ein wunderbares Serpentinengeschlängel bergauf mündet. Wir haben die Dades-Schlucht erreicht. Was für eine Bergstrecke! Motorrad für Motorrad trudeln wir oben am Treffpunkt ein, wo ein Restaurant mit Aussichtsterrasse liegt. Natürlich sind alle Touristen hier, denn die Aussicht ist grandios. Aber voll ist es hier nicht. Wir verbringen die Mittagspause auf der Terrasse. Es gibt mal wieder "omelette berbère", ein Berber-Omlett. 

Während mittags die Auswahl an Gerichten meist klein ist - leckere Salate und Eierspeisen dominieren - gibt es am Abend fast immer eine traditionelle Tajine. In den getöpferten, runden Schalen mit dem pagodenförmigen Deckel werden die Gerichte geschmort, ähnlich wie in einem Römertopf. Von außen sehen sie alle gleich aus, die Überraschung folgt, wenn der Deckel gelüftet wird. Hähnchenschenkel mit Gemüse und Reis oder eine Art Rindfleischsuppe, es scheint hunderte von Gerichten zu geben, die sich in einer Tajine zubereiten lassen. Es ist Ramadan, so dass unsere Gastgeber erst nach Sonnenuntergang essen. Ich bewundere Assis für seine Selbstdisziplin: Vor dem Sonnenaufgang das Frühstück, nach Sonnenuntergang erst das Abendessen. Dazwischen: nichts! Das Thema Alkohol im Ramadan konnte sehr pragmatisch gelöst werden. Nicht-Gläubige dürfen ja Alkohol trinken. So haben wir uns vorher bei einem Gemeinschaftseinkauf mit marokkanischem Wein eingedeckt, der am Abend auf den Tisch kommt. In manchen Hotels servieren sie sogar Bier und Wein, in anderen dürfen wir unsere Flaschen selbst in den Kühlschrank stellen und zum Abendessen gekühlt genießen. Marokko ist das Land der Lösungen, nicht das Land der Probleme.

Am folgenden Tag beweist Assis erneut, wie man in Marokko Probleme löst: An einer BMW hat sich das Radlager vorne verabschiedet. Am Fotostopp heißt es: Ersatz-Motorrad runter vom Pickup, 850GS rauf. Das geht ratzfatz. Wir sind weit, weit weg von Marrakesch und einer Werkstatt. Assis ruft daheim seinen Mechaniker an, er möge doch ein passendes Lager auftreiben. Offenbar gibt es ein Lager in einem der Orte an unserer Route, jedenfalls kommt ein junger Mann mit dem Fahrrad und reicht das Lager Assis durch das Fenster in den Pickup. Während wir zu Abend essen, tauscht Assis das Radlager auf dem Parkplatz vor dem Hotel. Er flucht vor sich hin "BMW lets me love KTM." Das Radlager ist an dem neuesten Motorrad, einer 850 GS mit nur 25.000 km auf der Uhr, kaputt gegangen.

Die Todra-Schlucht ist spektakulär: Hohe Felswände rücken immer enger zusammen. Unten ist Platz für ein Rinnsal von Bach und eine schmale Straße. Sie liegt im Schatten, oben strahlt die Sonne die Felsen in warmen Farben an. Die Tücher und Teppiche der Verkäufer am Straßenrand bilden hübsche, bunte Kontrastpunkte zu dem ockerfarbenen Fels. Habe ich solch eine Schlucht schon mal in meinem Leben gesehen? Mir war vor der Reise nicht klar, wieviele landschaftliche Highlights Marokko für seine Besucher bereit hält. Und selbst die Steinwüste, die Reindert noch als langweilig beschrieben hatte, übt auf mich eine gewisse Faszination aus.

Ait-Ben-Haddou ist eine befestigte Stadt, die wir auf unserem Rückweg Richtung Marrakesch sehen. Die Wohnburgen sind seit 1987 als UNESCO Welterbe geschützt. Eine phantastische Lage im Hang, alle machen Fotos. Der Pass ist breit und schnell ausgebaut, der Verkehr nimmt wieder zu nach Tagen der Einsamkeit. Marrakesch können wir schon von weitem erkennen. Es wird wieder schwieriger, als Gruppe zusammenzubleiben. Ah, es gibt wieder Ampeln. Aber inzwischen habe ich mich an den Fahrstil gewöhnt. Schnell noch mal zwischen zwei Autos durchschlängeln? Klar, der sieht mich ja.

Ralf Schröder