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Das Licht des Nordens

Jenseits des Polarkreises geht im Sommer die Sonne nicht mehr unter. Die große Helligkeit rund um die Sonnenwende Ende Juni bringt Lichtspiele vom Feinsten mit sich, die sich zum Glück nicht auf den Juni beschränken, sondern sich bis weit in den August hineinziehen.

Leichter gesagt als getan: Wir hatten die Idee, ganz oben im Norden eine Tour auf dem Polarkreis von Finnland über Schweden nach Norwegen zu machen. Aber schon in der Planung narren uns die Karten: Es sieht immer so aus, als läge Norwegen in Süd-Nord-Richtung auf dem Globus. Aber da liegen sowohl ich als auch Norwegen schief. Die Ausdehnung von West nach Ost ist viel größer, als ich vermutet hatte. Warum sieht es so aus, als würde der Polarkreis in Finnland weiter nördlich als in Norwegen beginnen? Und was hat das mit der schräg stehenden Erdachse zu tun? Ich bin verwirrt. "Lass uns doch einfach losfahren", kommt die Stimme aus dem Nebenzimmer. "Dann sehen wir schon, ob Du schief gewickelt bist." Ich grunze eine Antwort in mich hinein, ist wohl auch besser so. 

Abends auf der Fähre in Travemünde dauert es noch eine Weile, bis die Kabinen bezugsfertig sind. Traditionell der Zeitpunkt für uns, ein erstes finnisches Bier zu nehmen: Das Karhu mit dem Bären auf dem Glas ist der Startschuss für unsere Tour zum Polarkreis. 

Nach der Ankunft in Helsinki geht es straight nach Norden. Ich probiere kleine Straßen Richtung Jyväskylä aus, wo wir unser erstes Quartier nach 385 Kilometern erreichen. Es wäre auch deutlich kürzer gegangen. Das Restaurant der Anlage ist geschlossen, den Schlüssel für unser Apartment finden wir in einem Fach an der Tür. Immerhin: Sie haben uns Pasta mit Lachs in den Kühlschrank gestellt und eine Blaubeer-Creme zum Nachtisch. Aber nur ein Bier??!! Ich hätte das zweite doch auch bezahlt... Dafür ist der Abendspaziergang an den Stromschnellen schön. Drei finnische Kajakfahrer wollen noch mal nass werden und testen Ihr Können im wirbelnden Wasser.

Wir wollen Strecke machen: Knapp 500 Kilometer stehen am nächsten Abend auf der Uhr, als wir den Wintersportort Syöte erreichen. Das klingt viel, aber in Finnland ist das Fahren herrlich entspannt. Wenig Verkehr, viele Straßen mit Tempo hundert im Sommer und einfach nur rollen lassen. Wir kommen erstaunlich entspannt an und genießen den wunderbaren Blick vom Berg hinunter ins Tal. Gekrönt wird der Abend von einer ausgezeichneten Hotelküche. Am Morgen bietet sich beim Aufwachen ein spektakulärer Blick: Im Tal unter uns wabern weiße Wolken über dem kleinen See und dem Moor, während wir von oben aus der Sonne auf die Wolke schauen können. Dabei sind wir gar nicht so hoch: 420 Höhenmeter zeigt das Navi an. 

Erst am dritten Fahrtag erreichen wir in Salla den Polarkreis in Finnland. Auch Salla ist ein Wintersportort, ganz weit im Nordosten Finnlands. Und wie wir feststellen müssen: Im Sommer ziemlich tot. Der Werbeslogan "In the middle of nowhere" ist nicht übertrieben. Aber unsere Hütte ist sehr gut, der örtliche Supermarkt liegt um die Ecke; heute wird selbst gekocht. Und wieder hocken wir über den Karten: Wenn wir jetzt auf dem Polarkreis nach Westen Richtung Norwegen fahren wollten... fehlt da eine Straße. Ja, Richtung Rovaniemi ginge, das wäre halbwegs am Polarkreis entlang und dann nach Överkalix, um dann über Kiruna... Stopp, Veto! Die E10 bei Kiruna lässt sich nicht vermeiden. Und das ist für mich die ätzendste Strecke, die man im Norden mit dem Motorrad fahren kann. Breit, viel LKW-Verkehr, viele Blitzer und stumpf geradeaus. Wir entscheiden uns, die Route kreativer zu gestalten und weiter nördlich zu fahren.

Und so geht es am nächsten Tag nach Inari ganz in den Norden Finnlands. Wir sind längst im Rentierzuchtgebiet der Samen angelangt. Rentieren fehlt jeglicher Sinn für das Verkehrsgeschehen, bei Motorrädern geraten sie auch schon mal in Panik. Bei (erlaubtem!) Tempo 100 springt mir eines aus dem Graben vor das Vorderrad. Das ABS rattert, der Reifen wimmert, aber ich vermeide das gegenseitige Filetieren. Das Vieh hat Respekt einflößende Hörner. Tief durchatmen, dann kommt die aufgeregte Stimme aus der Gegensprechanlage. "Hast Du den Warnblinker angemacht? Weißt Du, dass die Africa Twin ein pulsierendes Bremslicht hat?" Nö, wusste ich nicht. Und dass ich offenbar nach hinten eine Lightshow fabriziert habe mit meiner Notbremsung, war mir auch nicht klar. Mich interessierte in dem Moment nur das Rentier. Aber gut zu wissen...

Zur Feier des unfallfreien Tages oder stellvertretend zur Strafe für das blöde Rentier gibt es am Abend lecker Rentiergeschnetzeltes mit Kartoffelpü und Preiselbeer-Marmelade. Wir kommen mit der Barfrau im Hotel ins Gespräch - sie hat Longdrinks aus heimischen Zutaten erfunden, die unser Interesse wecken. Die Birken Margarita besteht aus Cassis Vodka, Birkenblatt-Sorbet und Birkenrinde. Den Blaubeeren-Kuss mixt sie aus Blaubeer-Vodka, einem selbstgemachten Kräutersaft, Süßgras-Sirup und Hafermilch. Ich setze die tägliche Ration Bier ab und wir testen uns durch die Longdrink-Karte. Uns steht die Begeisterung offenbar ins Gesicht geschrieben, wir wollen mehr wissen. Die Barfrau zieht in ihrer Freizeit durch die Wälder um Inari, sammelt Beeren, Kräuter und Pilze und verarbeitet sie zu Marmelade und Sirup. Und so ein Tannenspitzen-Sirup schmeckt nicht nur lecker im Tee, sondern ist auch eine Bereicherung für jeden Longdrink. Für die beiden Jungs, die direkt vom Angeln in die Bar gewankt kommen und sich in ihren Gummistiefeln auf das Sofa lümmeln, sind die tollen Drinks leider verschenkt. Bei den beiden zählt nur noch die Wirkung des Alkohols. Willkommen in Finnland!

Nur wenige Kilometer nördlich von Inari zweigt die Straße nach Karasjok in Norwegen ab. Aus einem unerfindlichen Grund bin ich die vorher noch nie gefahren, dieses Teilstück fehlt mir. Es ist das angekündigte Rollercoaster-Gefühl: Geradeaus rauf und runter in großen Wellen verläuft die Straße. Selten fand ich ein Überholverbot so sinnvoll: In den Senken kann man ganze Busse verstecken. Dann öffnet sich die Landschaft, mit der Brücke ist die Grenze nach Norwegen erreicht. Hätten wir nicht noch in Karasjok vergeblich nach einem Café gesucht, wären wir von Inari bis Alta 320 Kilometer mit vier Mal abbiegen gefahren. 

Seit Jahren erzählen mir Freunde und Bekannte vom Alta Canyon. Deshalb buchen wir eine Bootsfahrt auf dem Fluß. Zum Einsatz kommen ausschließlich die typischen Langboote aus Holz. Das Befahren des Altaelv ist nur Einheimischen mit einer Lizenz erlaubt. Hintereinander sitzen wir in dem schmalen Boot, in zügiger Fahrt geht es durch den breiten, aber flachen Fluss. In den Stromschnellen höre ich Steine am Rumpf schrabben, aber der Motor hat genug Power und der Bootsführer genügend Ortskenntnis. Immer schmaler wird das Tal, immer höher die Felswände am Ufer, bis unser Guide vor einer kräftigen Stromschnelle wendet. Oberhalb dürfen nur noch einheimische Fischer mit spezieller Lizenz hin - kein Zutritt für Touristen. Finde ich gut.

Über Tromsø fahren wir auf die Insel Senja, das gute Wetter verfolgt uns weiter. Hier erleben wir die schönsten Lichtspiele bisher: Wolken über dem Meer, die unten einen Streifen freilassen, durch den am späten Abend die Sonne noch einmal bricht. Herrje, ist das großartig! Es ist August, um Mitternacht ist die Sonne bereits wieder jenseits des Horizonts, aber das Licht ist genauso sensationell wie im Juni! 

Auch wenn ich mich in Senja ein wenig verliebt habe, müssen wir weiter, wir haben noch einen Termin in Nordschweden. So führt uns die Tour über Narvik Richtung Polarkreis nach Süden, bevor wir über die Berge nach Schweden abbiegen. Die Begrüßung ist unfreundlich: Zweihundert Kilometer mit Starkregen stellen die Klamotten auf eine harte Probe. Andererseits: Wenn wir die breiten Ströme wie den Vindelälv mit genug Wasser in den Stromschnellen sehen wollen, müssen die Flüsse auch gefüttert werden. Und am nächsten Tag hat uns die Sonne wieder. Wir rollen am Umeälv bis Lycksele, wo die Arbeit auf uns wartet. Sind wir eigentlich noch nördlich des Polarkreises? Ist das noch wichtig?

Ralf Schröder